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Vorabaussagen

Im Schreibprozess kommt es immer wieder zu Aussagen, die einem Geschehen vorangestellt sind und den Inhalt vorwegnehmen. Fürs eigentliche Schreiben ist das absolut hilfreich, weil es die Aufmerksamkeit auf das bündelt, was erzählt werden will. Es ist gar nicht so leicht, diese Stellen im eigenen Roman aufzuspüren, aber es tut dem Text meistens gut, wenn sie entdeckt und gestrichen werden.

Deborah war schrecklich aufgeregt. Gleich würde sie nicht mehr klar denken können, sie hatte regelrecht Angst vor dieser Begegnung.

Als sich die Tür seines Autos öffnete, erst sein Bein und gleich darauf der ganze Mann sichtbar wurde, vergaß sie zu atmen. Ein Kind fiel in ihre Kniekehle, sie sackte ein und wäre beinahe auf dem Asphalt gelandet. Dem Himmel sei Dank. Der Moment hatte sie nach Luft schnappen lassen und endlich wurde wieder Sauerstoff durch ihre Lungen gepumpt. Deborah schenkte der Mutter ein vor Dankbarkeit strahlendes Lächeln. Eine Ohnmacht hätte gerade noch gefehlt.

Schritt für Schritt kam er auf sie zu. Seine Silhouette schien im Sonnenlicht zu flirren und mit dem blauen Himmel zu einer einzigen Gestalt zu verschmelzen. Neben ihr hatte das Kind zu weinen begonnen, ein schriller Ton, der sich erbarmungslos in Deborahs Gehörgänge bohrte. Musste sie selbst schreien, um mit dem inneren Druck fertig zu werden? Brauchte sie vielleicht in diesem Moment keine Mutter, die sie liebevoll an sich zog und ihr die Aufregung einfach hinwegstreichelte?

Endlich stand er vor ihr, ganz nahe war er jetzt. Sie sog seinen Duft ein, sah die Lachfältchen in seinem Gesicht, und im nächsten Moment gaben ihre Beine endgültig nach.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in seinen Armen und er streichelte sanft die Aufregung aus ihrem Gesicht. Eine Ohnmacht hätte tatsächlich gefehlt, gerade noch so.

Der erste Absatz ist das Problem, und in diesem Fall kann man ihn einfach streichen. Er nimmt das Geschehen auf eine Weise vorweg, die dem Text seine Erlebnisqualität raubt. Wie viel intensiver ist es, gemeinsam mit Deborah durch die Stadien der Nervosität zu wandeln und somit nachzuempfinden, wie sie fast umkippt, bald schon schreien könnte, sich nach Trost sehnt und schließlich der Schwerkraft nachgibt. Die Phantasie der Leserin will anspringen und mitfühlen, und das kann sie am besten, wenn die Aufregung nicht vorab serviert wird.

Und wer zwingt Deborah hier eigentlich zur Ohnmacht? Der schmerzlich vermisste Geliebte oder der seit zwanzig Jahren verschollene Vater oder einfach der beste Freund aus Kindertagen? Ich habe ehrlichgesagt keine Ahnung, aber falls Sie sich inspiriert fühlen und die Geschichte von Deborah und dem Fremden weiterentwickeln oder einen Teil der Vorgeschichte ausspinnen wollen, dann nur zu gerne. Ich freue mich über entsprechende Zuschriften und werde Ihre Prosa mit Vergnügen hier im Blog veröffentlichen, und zwar natürlich unter Nennung Ihres Namens oder eines von Ihnen gewählten Pseudonyms.