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Lektorat als Garten

Ich habe neuerdings einen Garten, die Sache ist wirklich recht frisch. Und weil sie so frisch ist, weil ich mir schon lange einen Garten wünsche, weil es berauschend ist, ein Stück Land gestalten zu können, bin ich nun infiziert. Nur noch Gärten überall, wohin ich auch schaue. Sogar auf meinem Schreibtisch.

In meinem Draußen-Garten wuchern Brennnesseln, Urtica in allen Ecken und nicht nur dort, genau genommen ist der halbe Garten voll kleiner und großer Nesseln. Ein Heilkraut immerhin, noch dazu eines, auf das der Kleine Fuchs, die Silbergraue Nessel-Höckereule und auch das Tagpfauenauge angewiesen sind. Nun ist ein Garten keine Wiese, sondern kultivierte Natur. Meiner jedenfalls. Zumindest in der Zukunft. Gern mit Wiese, logisch, und Wildblumen überall, aber auch mit reichlich Raum für mich und die Gestaltungsfreude.

Gestern habe ich damit begonnen, eine Geschichte zu lektorieren, eine kurze Geschichte. Jemand hat sie mit Engagement, Inspiration und mit viel Liebe gestaltet und ab einem bestimmten Punkt werden Besucher kommen und darin herumspazieren. Er hat mich gebeten, mich vorab in seiner Geschichte umzuschauen. Er hat mich eingeladen, seinen Garten zu betreten und ihn bei der abschließenden Gestaltung zu unterstützen. Und da ist es passiert. Ich wurde zur Gärtnerin, einmal mehr.

Ein Garten und ein Text. Beide haben ihre speziellen Bedingungen, ihre Persönlichkeit, ihre Einzigartigkeit. Kein Garten ist wie der andere, kein Buch ist wie das nächste. Darum unter anderem geht es, egal ob ich mit den Händen in der Erde wühle oder lektoriere. Es wächst, es blüht, es entfaltet sich, hier und da läuft was schief, dann muss vielleicht mehr Licht rein oder Nährstoffe oder einfach Wasser, damit der Garten als Gesamtgebilde und in der ihm eigenen Schönheit wirken kann. Manchmal muss eine neue Pflanze rein ins Konzept, manchmal muss eine andere befreit werden vom wuchernden Efeu oder sogar von ganz bestimmten Blütenpflanzen, die mithilfe ihrer Saugorgane jedem Leben der Wirtspflanze würgend den Garaus machen. Und nicht zuletzt geht es um all das, was sich noch entfalten will, was schon angelegt ist, um die Samen in der Erde, um die versteckten Möglichkeiten.

In meinem Garten gibt es neben den Nesseln auch Wühlmäuse. Und eine Wühlmaus hat an einem Obstbaum nichts zu suchen und sei sie noch so niedlich. Die Schleiereulen, die nebenan wohnen, konnten den Mäusen bis jetzt auch nicht beikommen. Sieben Junge haben sie und sie fangen pro Nacht immerhin dreißig Mäuse, um die Bande und sich selbst satt zu kriegen. Der Nachbar rät mir zu Pflanzkörben aus Draht, um die Wurzeln der noch zu setzenden Obstbäume zu schützen.

Genau das schlage ich auch dem Autor vor. Die Wühlmäuse müssen weg, sage ich, du kannst nicht nach jedem Absatz die Perspektive wechseln, damit untergräbst du deinen Spannungsbogen und dann kippen deine Obstbäume früher oder später einfach um. Verstehe, erwidert er, aber weißt du, ich pfeife auf das Obst und Pflanzkörbe sind mir suspekt. Meinen Vorschlag, es mit Menschen- oder Tierhaaren zu versuchen, weil Wühlmäuse diesen Geruch angeblich nicht mögen, weist er ebenfalls von sich. Die Mäuse sind ihm wichtig.

Seine Perspektivwechsel werden zur Methode. So ein Wühlmausgarten kann seinen ganz eigenen Reiz haben, man muss sich nur auf seine speziellen Bedingungen einlassen, und die Schleiereulen, die Wiesel und der Fuchs werden es danken. Und schlussendlich sind diese Mäuse wirklich schöne Tiere.

Für meinen Garten werde ich sie mir trotzdem besorgen, diese Drahtkörbe. Den Nesseln werde ich – gemeinsam mit den Ziegen des Nachbarn – zu Leibe rücken und ihnen irgendwo im Garten einen Platz zuweisen, damit die Falter weiterflattern. Und ich mag sie einfach, diese Verbindung zwischen Lektorat und Garten, und zwar schon lange, weil sie so gut zu beschreiben vermag, dass ein Text ein lebendiges Gebilde ist. Er lebt und blüht auf dem Schreibtisch und auch im Kopf der Autorin oder des Autors, er lebt und gedeiht während des Lektorats, dann in immerhin schon zwei Köpfen. Und er lebt und verändert sich sogar noch nach seiner Veröffentlichung, also wenn alles festzustehen scheint, aber das ist eine andere Geschichte.