Zurück zur Übersicht

 

Labyrinthisch schreiben

In der griechischen Mythologie ist es Ariadne, die dem Helden Theseus den roten Faden aushändigt. Mithilfe dieses Fadens soll Theseus aus dem Labyrinth herausfinden, nachdem er dem Minotaurus, dem Bewohner der Mitte, den Garaus gemacht hat. Ariadne verrät ihren Halbbruder und gewichtige Teile ihrer Kultur, Theseus tötet mit dem Stiermenschen seinen eigenen Schatten, aber das ist nur eine von vielen Interpretationen. Im griechischen Mythos ist und bleibt der Minotaurus als blutrünstiges Mischwesen ein Geschöpf des Schreckens, nur der rote Faden gibt Rätsel auf.

Eine Geschichte verfügt über einen roten Faden, und sie ist wie ein Labyrinth zu begehen, Verwechslungen mit dem Irrgarten sollten spätestens jetzt ausgeschlossen werden. Das klassische Labyrinth hat keine Irrwege, keine Sackgassen, es gibt nur einen Ein- und Ausgang, es gibt nur eine Mitte und es gibt nur einen Weg. In einem Labyrinth sind wir in Sicherheit, wir dürfen wandeln und uns anvertrauen, weil wir uns nicht verlaufen können. Und das ist alles andere als langweilig, es ist im Gegenteil vieldimensional, tiefgreifend und mitreißend. Wandeln wir im Vertrauen auf den Weg, können wir uns auf alles einlassen, was uns begegnet. Eine gute Geschichte gibt genau das: Einen Rahmen für die Weite, die sich beim Lesen entfalten möchte, einen Stil, der uns klar den Weg zu weisen vermag, statt uns zu verwirren, eine Dramaturgie, die uns vergessen lässt, was sich im Außen abspielt.

Der Ariadne-Faden ist nichts anderes als der Weg durchs Labyrinth. Der rote Faden ist Teil des Ganzen und er passt haargenau ins Gesamtbild, ist wie ein Negativ, wie ein Zwilling des eigentlichen Labyrinths. Der rote Faden macht den Weg deutlich, und er sorgt dafür, dass wir nicht vergessen, weiterzuwandeln. Der Faden ist rot wie das Blut, er haucht dem Labyrinth das Leben ein. Schreibtechniken und Handwerk bleiben lau in ihrer Wirkung, wenn einem Text das Leben fehlt. Und wie wird er rot, der Faden, wie wird der Text zum Leben erweckt? Durch die Hingabe an das Erzählen und an die Figuren, durch das Schreiben ganz genau dessen, was ein Autor oder eine Autorin wirklich sagen will, durch das berühmte Herzblut, manchmal dadurch, dass der Schreibende sich den Regeln entzieht und seiner eigenen Stimme folgt.

Stoßen wir in die Mitte vor, die jedes Labyrinth unweigerlich für uns bereithält, erwartet uns dort mit dem Minotaurus die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung. Die Mitte ist der intimste Ort des Labyrinths, ein Ort der Stille, des Ausruhens, des Ankommens. Hier umgibt uns das Labyrinth vollständig wie eine schützende Haut, hier können wir auch wahrnehmen, dass wir selbst die Mitte in uns beherbergen. Kommen wir während des Schreibens in die Mitte, so werden wir plötzlich geschrieben, wir müssen uns nur noch einlassen, still werden, lauschen. Kommen wir beim Lesen in die Mitte, sind wir vielleicht atemlos, halten die Zeit an oder lassen das Buch sinken, um Luftlöcher mit den Augen zu malen. Die Mitte ist die Seele des Textes und sie vermag ein ganzes Buch zu durchdringen.

Der Minotaurus wird weder erschlagen noch erstochen. Er gehört in die Mitte, wie der Weg zum Labyrinth. Ohne ihn entwickelt der Mord im Krimi nicht die nötige Kraft. Ohne ihn fehlt der Liebesszene das Strömen auf der Haut und im Leib, ohne ihn wird das Kinderbuch die Unschuld weit offener Augen und Sinne vermissen lassen. Setzen wir uns besser selbst an seine Stelle, so kann der Stiermensch wandeln, wie und wohin er will, und er wird uns von Zeit zu Zeit mit einer Prise Radikalität, mit seiner Leidenschaft, mit seiner spezifischen Schönheit versorgen. Und nicht zuletzt beschenkt er uns mit der Kraft, die uns beim Schreiben durchhalten und nicht nachgeben lässt, bis wir das Wörtchen Ende getippt haben.